Ob ich bis Naraus oder ganz hoch bis Cassons Grat fahren möchte, fragt mich die Kassiererin an der Talstation. Über die Windverhältnisse kann sie natürlich nichts sagen und die wartende Schlange hinter mir macht eine schnelle Entscheidung auch nicht leichter. Mit einem mulmigen Gefühl und der teuersten Fahrkartenvariante sitze ich schließlich im Sessellift neben einem Gleitschirmkollegen, der einfach nur ein bißchen fliegen will. Wie schön wenn man keine besonderen Ambitionen hat, denke ich, und würge meine Schinkenbrote ohne den geringsten Appetit hinunter. Laut Wetterbericht ist heute der Streckenflugtag (M-Tag) und Anspannung und Erwartung sind riesig. Die Nord- und Bisenlage, die uns in Scuols geärgert hat soll abflauen und einer schwachen Südwestströmung Platz machen. Dazu trocknet die Luft so weit ab, daß mit einer hohen Wolkenbasis und einer geringen Gewittertendenz zu rechnen ist.

 

In Naraus endlich angekommen meint der Typ von der Bahn, daß wir gar nicht weiter hochzufahren bräuchten, es hätte oben NO-Wind, also Abwind. Trotzdem entschließen wir uns, unser Ticket voll auszunutzen und stehen wenig später gegen 10.00 Uhr am Startplatz. Inzwischen ist der einst so blaue Himmel mit 5/8 Cumuli bedeckt, deren Basis erschreckend niedrig bei knapp 3000m liegt; dafür kommt der Wind nur noch von der Seite. Allmählich trudeln weitere Gleitschirmflieger ein und den nächstbesten frage ich, was denn wohl so heute gehen könnte. Disentis wäre drin, wenn man sehr früh rausginge, mehr nicht wegen zu großen Abschattungen am Nachmittag. Weiterhin rät er mir, vor dem Stausee nach hinten zur Hauptkrete zu wechseln. Er würde hier sehr viel fliegen und hätte auch die SM (Schweizer Gleitschirmmeisterschaft) letztes Jahr mitveranstaltet, worauf mir seine Ausführungen sehr glaubhaft erscheinen. Auf meinen Streckenflugzettel steht aber bereits ein Zielrück über fast 80km, eine Aufgabe, die mich jetzt noch mehr an einen Fall von hoffnungslosem Optimismus erinnert.

 

Wieder denke ich, warum mache ich mir eigentlich diesen Streß, als ich mit einem faulen, trockenen Geschmack im Mund fertig eingehängt am Starthang stehe. Mein Experte von eben hat gerade eine solide Sitzbrettstarttechnik hingelegt, so daß die ausgelöste Geröllawine noch immer in Bewegung ist. Meiner Nervösität tut das natürlich keinen Abbruch, zumal sich um ein Haar mein Helm Richtung Tal verabschiedet hätte. Punkt 11.15 Uhr ziehe ich den Schirm hoch und schwinge mich in die Lüfte.

 

Nach nur wenigen Minuten habe ich bereits über 500m verbraten und ich überlege ernsthaft Richtung Landeplatz zu fliegen um nicht meinen Experten zu begegnen, der gerade unter mir zur Außenlandung ansetzt. Doch schließlich, nach langem Suchen, erwische ich einen schwachen pulsiven Schlauch bei Plaun, der es mir ermöglicht, etwas Höhe zu machen und die Querung zum Crap Sogn Gion in Angriff zu nehmen. Knapp unter der Bergstation angekommen kratze ich ziemlich nahe am Hang herum und mir wird klar, daß der Schlauch wahrscheinlich auf der Westseite abgeht. Einfach hinüberfliegen geht nicht, weil die Seile der Bergbahn mir den Weg versperren. Ein Umfliegen würde sehr viel Höhe kosten, daher bleibt nichts anderes übrig als abzuwarten und irgendwie noch 20-30m höherzukommen. Beim knappen Überfliegen des Seilbahnmastes ist es mir nicht ganz wohl, doch die "Belohnung", ein 2-3m/s Schlauch, läßt nicht lange auf sich warten. Zum erstenmal an der Basis, und das nach ziemlich genau 1h. Ob sich ein Weiterflug bei den schwachen Bedingungen überhaupt lohnt, überlege ich, als ich im selben Moment bereits Richtung Crap Masegn unterwegs bin und meinen Fast-Absaufer schon beinahe vergessen habe. Dort ermutigt mich die Thermik mit einem ruhigen und kräftigen Aufzug, so daß die Querung des kleinen Tals Val Da Siat keine Probleme darstellt. An der gegenüberliegenden Krete kann ich die verlorenen Höhenmeter schnell wettmachen und wiederum an die Basis, die jetzt bei 3200m liegt, aufdrehen. Unter mir befindet sich der Stausee, der eingerahmt von fast senkrechten Felswänden einmalig schön olivgrün in der Sonne funkelt.

 

Einfach ein irres Gefühl, die gesamte Bergwelt unter sich zu haben und diesen gigantischen Ausblick genießen zu dürfen. Dieses völlige Ausgesetztsein und das Bewußtsein, überall hinfliegen zu können machen die Faszination des Streckenfliegens erst wirklich aus. Momente, die man nicht festhalten kann und die einem später vollkommen unwiklich erscheinen. Doch jetzt im Augenblick des Fliegens schlägt diese Droge voll zu, einfach unbeschreiblich.

 

Ein Winddummie, bzw. Vorflieger, wäre nicht schlecht, geht es mir durch den Kopf, doch weit und breit niemand zu sehen. Also schlage ich den kürzesten Weg ein und beschließe einfach, geradewegs über den See hinwegzufliegen. Bald erinnere ich mich an die Ratschläge hinten herum zu fliegen, als ich konstant zwischen 4-5m/s Saufen auf meinem Vario ablese. Auf der anderen Seite angekommen, ca. 2300m, finde ich einen ruppigen und engen Schlauch, der mich ziemlich unsanft aber schnell nach oben befördert. Nächster Anhaltepunkt ist der Cuolm da Rubi, an dem ich meinen organischen Wassertank wegen Überdrucks entleeren muß. Diese aufwendige Prozedur kostet mich fast 15min und etwas Akrobatik, Nerven und viel Vertrauen in meine Beinschlaufen. Frohgelaunt und erleichtert düse ich im Delphinflug der Hauptkrete oberhalb von Trun entlang und habe ausgiebig Zeit das tolle Panorama rund um den Tödi zu bestaunen. Am Schluß der Krete, vor dem Val Russein, beträgt die Höhe nur noch schlappe 2400m und ein Schlauch muß her.

 

Ohne Vorwarnung werde ich plötzlich von einem Monsterteil gepackt und nach oben gerissen. Instinktiv gebe ich die Bremsen frei, damit die Kappe nicht zu weit nach hinten fällt. Ein kurzes lautes "Batsch" und beide Ohren klappen großflächig weg und das bei dem Anstellwinkel. Ich bekomme es mit der Angst zu tun und ziehe ganz leicht mit den Bremsen. Im selben Augenblick öffnet sich der Schirm schlagartig. Der begleitende, wahnsinnig laute Öffnungsknall läßt mein Puls auf 200 steigen. Hoffentlich hält der Schirm das aus! Knapp 8m/s trotz halber Fläche, als die Beschleunigung nach oben endlich ein Ende nimmt. In welche Seite soll ich eindrehen, schießt es mir durch den Kopf. Ich entscheide aus dem Bauch heraus für rechts und reiße die Kappe so eng wie möglich herum. Plötzlich bleibt der Fahrtwind weg. Oh Scheiße. Ich schaue hoch und ahne, was gleich geschehen wird. Die Bremsen bereits zu über 50% durchgezogen. Verzögert, dafür um so heftiger schießt die Kappe vor. Ich drücke die Bremsen voll durch und hebe mich dabei aus dem Sitz. Kein Frontklapper, ich atme auf. Trotz zittriger Gliedmaßen und einem Adrenalinschock fliege ich zu diesem Monsterbart zurück. Diesmal drehe ich links mit dem gleichen Ergebnis. Ich muß mich wieder voll auf meinen Schirm konzentrieren, so daß für ein Orientieren keine Zeit und Konzentration mehr bleibt. Der dritte Anlauf ist dann doch endlich erfolgreich. Oben angekommen auf 3400m ist mir vor Aufregung ziemlich übel.

 

Bis zum Wendepukt Caischavedra fliege ich ohne einzudrehen, was mir fast zum Verhängnis wird. Auf dem Rückweg erwische ich erst knapp über der Baumgrenze (2100m) oberhalb des Klosters von Disentis den rettenden Aufzug. Nach der Querung vom Val Russein finde ich unterhalb des Piz Ner den nächsten Schlauch. Der Monsterbart hat wohl eine Ruhepause eingelegt oder ich bin daran vorbeigeflogen. Die Basis liegt jetzt auf 3700m und die Thermik ist gleichmäßig stark. Zwischen den Schläuchen habe ich dafür starkes Sinken und zweimal muß ich bis fast 2000m runter um wieder anzuhängen. Trotzdem kann ich den Rückweg fast in der halben Zeit zurücklegen. Nach 5½ Stunden habe ich es endlich geschafft und lande vollkommen ausgekühlt aber überglücklich in Flims ein. Wie es der Zufall so will, winkt mir mein Sesselliftgesprächspartner vom Vormittag aus seinem Hotelzimmer zu und gratuliert mir mit einem etwas verblüfften Gesicht zu meinem Streckenflug.

 

Hans-Peter